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THINKING

CAPITALISM

Eine Newsletter-Serie von Felix Rohrbeck

Liebe Leser*innen,

Francisco Sagasti wurde im November 2020 Präsident von Peru – als drittes Staatsoberhaupt innerhalb nur einer Woche. Wenn es einen Experten für turbulente Zeiten gibt, dann ist er es. Das akademische Jahr am THE NEW INSTITUTE endete letzte Woche, und Sagasti war Fellow im letzten Trimester, um ein Buch fertigzustellen, an dem er über 45 Jahre lang gearbeitet  hat. Dabei geht es um den Philosophen Francis Bacon. Doch nicht nur seine wissenschaftliche Arbeit, sondern auch seine außergewöhnliche Lebenserfahrung und sein scharfer Verstand bereicherten die Debatten am Institut maßgeblich. Zum Abschluss dieser Newsletter-Serie, die ich als Media Fellow gestalten durfte, habe ich Sagasti zum Interview getroffen. Was brauchen politische Führungspersönlichkeiten in Zeiten wie diesen? Warum ist er überzeugt, dass autokratische Regime langfristig an guten Führungspersönlichkeiten scheitern? Und welchen Rat gibt er der jungen Generation?

Viel Freude beim Lesen
Felix Rohrbeck


Führung in stürmischen Zeiten: Was wir von Francisco Sagasti lernen können

Francicso Sagasti war Präsident von Peru. Was wir von ihm über Krisenzeiten lernen können – und warum er glaubt, dass autokratische Führer an ihnen scheitern werden.

Foto von Maximilian Glas

Felix Rohrbeck: Wir leben in bewegten Zeiten – viele Menschen haben das Gefühl, bei den zahlreichen Ereignissen kaum noch Schritt halten zu können. Wenn es jemanden gibt, der Erfahrung mit solchen Herausforderungen hat, dann sind es Sie. Im November 2020 wurden Sie Präsident von Peru – als drittes Staatsoberhaupt innerhalb nur einer Woche. Ihr Vorgänger wurde wegen Korruption des Amtes enthoben, sein Nachfolger durch anhaltende Proteste zum Rücktritt gezwungen. Was war Ihr Erfolgsrezept, um in dieser Ausnahmesituation wieder Stabilität herzustellen?

Francisco Sagasti: Ich hatte kein fertiges Rezept. Wenn Sie in einer so aufgewühlten Situation mit einem starren Konzept auftreten, haben Sie bereits verloren. Die Entwicklungen verlaufen zu schnell und unvorhersehbar. Was Sie in einer solchen Krise vor allem brauchen, ist ein Set intellektueller Ressourcen, das Ihnen hilft, fundierte Entscheidungen zu treffen. Aus meiner Sicht gehören dazu drei wesentliche Elemente:

Erstens benötigen Sie ein Mindset – also bestimmte Vorstellungen und Ideen, mit denen Sie der Krise begegnen. Zweitens brauchen Sie Evidenz. Damit meine ich nicht nur klassische Daten zur Wirtschaft oder Bevölkerung, sondern auch qualitative Informationen. Sie müssen genau verstehen, was gerade vor sich geht. Drittens ist Charakter entscheidend – die inneren Werte und Einstellungen, die Sie prägen.

Sind diese drei Elemente entwickelt, haben Sie ein solides Gerüst, um auch in schwierigen Situationen kluge Entscheidungen zu treffen.

FR: Können Sie ein Beispiel geben, wie diese drei Elemente während Ihrer Amtszeit als Präsident von Peru zusammengewirkt haben?

FS: Als ich das Amt übernahm, verfügte Peru über keinerlei Impfstoffe gegen das Coronavirus – es gab nicht einmal verbindliche Zusagen, sondern nur vage Versprechen. Was habe ich also getan? Mein Mindset war, die Situation bis ins Detail zu verstehen. Ich kontaktierte eine Freundin, die in diesem Bereich arbeitet, und innerhalb einer Woche wusste ich genau, welche neun Unternehmen an welchen Impfstoffen forschten und worin die Unterschiede zwischen mRNA- und Vektorimpfstoffen bestehen.

Mit diesem Wissen begann ich jeden Morgen um halb fünf, gezielt Evidenz zu sammeln: Ich las Fachzeitschriften, Berichte der Weltgesundheitsorganisation und Analysen der Financial Times. So erkannte ich beispielsweise, dass der russische Sputnik-Impfstoff viel zu komplex war, um ihn kurzfristig in Russland selbst herzustellen – Verhandlungen mit Russland hätten also wenig Aussicht auf Erfolg gehabt. Die chinesischen Hersteller wiederum boten verschiedene Impfstoffe mit sehr unterschiedlichem Wirkungsgrad an. Auch dieses Wissen war in den anschließenden Verhandlungen entscheidend. Am Ende gelang es uns, Impfstoffe von chinesischen Herstellern, Pfizer und AstraZeneca zu beschaffen – insgesamt 78 Millionen Dosen innerhalb von sechs Monaten.

Die nächste Herausforderung bestand in der Verteilung der Impfstoffe. Es gab Anfragen aus allen gesellschaftlichen Gruppen, von Journalist*innen bis zu Gefängniswärter*innen – jeder wollte bevorzugt werden. Hier kam das ins Spiel, was ich als Charakter bezeichne. Ich bin überzeugt, dass alle Bürger*innen den gleichen Wert haben und es keine Privilegien aufgrund von Geld oder Status geben darf. Deshalb setzte ich eine Kommission aus Medizinethikern ein, die festlegte, welche Gruppen zuerst geimpft werden sollten – an erster Stelle standen Ärzte und Pflegepersonal.

Mein Fazit: In Krisenzeiten gibt es kein Patentrezept. Aber mit dem Zusammenspiel aus Mindset, Evidenz und Charakter lässt sich auch durch schwierige Situationen navigieren.

FR: Hat Ihnen dieses Vorgehen auch geholfen, Vertrauen wiederherzustellen?

FS: Als ich das Amt übernahm, lag meine Zustimmung in der Bevölkerung bei 32 Prozent – am Ende meiner Amtszeit waren es fast 60 Prozent. Einen entscheidenden Beitrag dazu leistete die Art der Kommunikation. Das Wichtigste, was wir beschlossen hatten, war, die Dinge so darzustellen, wie sie tatsächlich sind – nicht, wie wir sie gerne hätten oder wie die Bevölkerung sie sich wünschen würde. Zudem äußerten wir uns nur dann öffentlich, wenn wir wirklich etwas Substanzielles mitzuteilen hatten. Meine Vorgänger traten teils fast täglich im Fernsehen auf. Ich hingegen habe mich nur dann geäußert, wenn es notwendig war – und erst, nachdem ich gründlich darüber nachgedacht hatte. Ich glaube wirklich, man sollte Präsident*innen und Ministerpräsident*innen verbieten, zu twittern. Wer permanent reagiert, denkt weniger nach und macht mehr Fehler.

FR: Was waren Ihre Fehler?

FS: Einen Fehler, den ich nie vergessen werde, machte ich bei meiner zweiten Pressekonferenz als Präsident. Ich wollte die Corona-Maßnahmen erläutern und hielt es für eine gute Idee, dazu eine ausführliche PowerPoint-Präsentation zu zeigen. Doch vor einer Gruppe erwartungsvoller Journalist*innen war das natürlich das völlig falsche Format. Die Pressekonferenz wurde ein komplettes Desaster. Im Anschluss kursierten sogar Memes im Internet, etwa nach dem Motto: „Pressekonferenz mit Präsident Sagasti: 15:30 bis 16:30 Uhr – Definition des Problems. 16:30 bis 17:30 Uhr – Ansatz und Methode.“ Und so weiter. Was soll ich sagen? Sie hatten recht. Das muss man dann auch ehrlich zugeben. Beim nächsten Mal haben wir es anders gemacht.

Foto von Luzia Cruz

FR: Derzeit beobachten wir in den USA, aber auch in anderen Ländern, wie autokratische Politiker*innen einen völlig anderen Führungsstil als Sie verfolgen, demokratische Errungenschaften angreifen und sogar abschaffen. Erleben wir gerade eine Zeitenwende?

FS: Die Geschichte verläuft in Zyklen. Dennoch bin ich überzeugt, dass autokratische Systeme auf Dauer nicht funktionieren. Gerade in bewegten Zeiten, in denen sich alles rasch verändert, ist es entscheidend, flexibel zu bleiben, zuzuhören und bereit zu sein, sich selbst weiterzuentwickeln. Außerdem muss man Hoffnung auf eine bessere Zukunft vermitteln können. All das gelingt autokratischen Herrscher*innen nur selten. Sie sind nicht anpassungsfähig, beharren auf ihren Fehlern und hören nicht zu.

Typisch für Autokrat*innen ist, dass sie sich zunächst für unentbehrlich halten – sie glauben, nur sie könnten die Probleme lösen. Darauf folgt meist ein autoritärer Führungsstil: Wer sich für den Einzigen oder die Einzige hält, der oder die den richtigen Weg kennt, neigt dazu, anderen die eigene Meinung aufzuzwingen. Schließlich kommt oft noch Korruption hinzu: Wer überzeugt ist, unersetzlich zu sein, meint häufig auch, für die eigenen Opfer belohnt werden zu müssen.

Mit Drohungen, Gewalt und dem skrupellosen Einsatz von Geld gelingt es Autokrat*innen zwar manchmal, sich lange an der Macht zu halten. Doch irgendwann brechen diese Systeme zusammen, weil sie nicht in der Lage sind, mit Veränderungen und Krisen umzugehen.

FR: Am THE NEW INSTITUTE arbeiten Sie als Fellow an einem Buch über den englischen Philosophen Francis Bacon, der im 16. Jahrhundert geboren wurde und oft mit dem Satz „Wissen ist Macht“ zitiert wird. Warum gerade Bacon? Was können wir heute von ihm lernen?

FS: Bacon lebte – wie wir – in turbulenten Zeiten. Der Übergang vom Mittelalter zur Moderne veränderte die Welt grundlegend. Bacon war überzeugt, dass wir die Natur verstehen müssen, um sie zu beherrschen und das Leben der Menschen zu verbessern. Ich glaube, dass wir heute am Ende der „baconischen Epoche“ stehen.

Wenn wir die Natur durch unsere Dominanz zerstören, untergräbt das auch die Idee, dass wir damit das menschliche Leben verbessern können. Was also kommt als Nächstes? Wie gestalten wir den Übergang?

Meine These ist, dass wir auch in dieser Frage von Bacon lernen können. In vielen Debatten über die Zukunft dominieren derzeit die Extreme: Stehen wir kurz vor der Auslöschung der Menschheit durch Künstliche Intelligenz – oder an der Schwelle zu einem goldenen Zeitalter, in dem Technologie uns ermöglicht, Krankheiten auszurotten und uns selbst zu optimieren? Schon Bacon hatte die Vorstellung, dass verschiedene Logiken und Ideen nebeneinander existieren können – und dass es unsere Aufgabe ist, uns dazwischen hindurchzuarbeiten und einen gangbaren Weg zu finden.

Leonard Cohen hat diesen Ansatz in seinem Lied „Anthem“ sehr schön beschrieben:

„Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That's how the light gets in.“

Ich möchte hinzufügen: „to illuminate the political darkness we are in.“

Foto von Maximilian Glas

FR: Das Konzept des THE NEW INSTITUTE besteht darin, Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen aus aller Welt zusammenzubringen, um gemeinsam Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu entwickeln. Welche Wirkung können solche Orte haben?

FS: Es gibt zu wenige Orte, an denen Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen, Ländern und Kulturen zusammenkommen, damit wirklich Neues entstehen kann. Die Arbeit solcher Institute halte ich für äußerst wichtig – aber sie ist auch herausfordernd. Man kann viele Fehler machen und braucht einen langen Atem. Allein die richtige Mischung an Menschen zusammenzubringen, ist eine hohe Kunst, die man nicht in drei oder vier Jahren erlernt. Umso bedauerlicher finde ich es, dass das THE NEW INSTITUTE nun schließt – gerade jetzt, wo es begonnen hatte, eine steile Lernkurve zu nehmen.

FR: Wenn Sie jungen Menschen heute auf Basis Ihrer gesamten Erfahrung einen Ratschlag geben sollten: Welcher wäre das?

FS: Engagiert euch in der Politik – ganz gleich, ob auf nationaler oder lokaler Ebene, in Parteien, Gewerkschaften oder Verbänden. Viele junge Menschen schrecken heute vor politischem Engagement zurück, weil sie Politik für korrupt oder schmutzig halten oder weil ihnen der Zugang zu kompliziert erscheint. Das Problem ist: Wenn sich die Engagierten zurückziehen, überlassen sie das Feld jenen, die vor allem machtgierig sind und keine Hemmungen haben, mit harten Bandagen zu kämpfen. Schon Platon wusste: Der Preis, nicht in die Politik zu gehen, ist, von den Schlechtesten regiert zu werden.

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