RE

THINKING

CAPITALISM

Eine Newsletter-Serie von Felix Rohrbeck

Liebe Leser*innen,

Ubuntu ist eine in Afrika weit verbreitete Philosophie. Ihre zentrale Prämisse lautet: „Ich bin, weil wir sind.“ Es handelt sich um eine moralische Grundhaltung, die den Menschen als Teil einer größeren Gemeinschaft begreift. Am THE NEW INSTITUTE lautet das Programm „Africapitalism“, das aus dieser Grundhaltung eine neue Form des kollektiven Unternehmertums in Afrika ableitet. Das klingt theoretischer, als es ist. Kenneth Amaeshi, der das Programm leitet, ist nicht nur Wissenschaftler, sondern auch oberster Wirtschaftsberater des Bundesstaates Imo in Nigeria. Dort wird diese Form des kollektiven Unternehmertums gerade erprobt. Das Ganze nennt sich OKOBI und ist erstaunlich erfolgreich.

Ich selbst bin Wirtschaftsjournalist und derzeit Media Fellow am THE NEW INSTITUTE. Das Jahresthema lautet: „Re-thinking Capitalism“. In einer kleinen Serie von Newslettern versuche ich, so konkret und verständlich wie möglich über einige der Ideen und Projekte zu berichten. Viel Freude beim Lesen!

Felix Rohrbeck


Ein Kapitalismus, der für Afrika funktioniert

Warum sollte nicht auch ein Dorf ein Unternehmen gründen können? Als Program Chair am THE NEW INSTITUTE möchte Kenneth Amaeshi mehr Menschen für eine kollektive Form des Unternehmertums begeistern, die an afrikanische Traditionen anknüpft. In seinem Heimatland Nigeria funktioniert das Konzept bereits erstaunlich gut.

1. Was ist das Problem?

Wenn wir über die Zukunft des Kapitalismus debattieren, dann tun wir das oft aus einer sehr westlichen Perspektive. Es geht viel um einzelne Unternehmerpersönlichkeiten, nachhaltigen Konsum, die ausufernde Macht von Tech-Konzernen und darum, wie eine Wirtschaft aussehen könnte, die nicht mehr primär auf Wachstum ausgerichtet ist. „Das alles sind wichtige Debatten“, sagt Kenneth Amaeshi, der am THE NEW INSTITUTE das Programm „Africapitalism“ leitet. „In weiten Teilen Afrikas sind die drängendsten Probleme für die Menschen aber ganz andere.“

Amaeshi selbst ist im Bundesstaat Imo im Südosten Nigerias aufgewachsen. Mehr als fünf Millionen Menschen leben hier, die allermeisten gehören der Volksgruppe der Igbo an. Laut den letzten halbwegs verlässlichen Zahlen aus dem Jahr 2020 liegt die Arbeitslosigkeit im Bundesstaat bei 57 Prozent.

„Wir haben Millionen junger Menschen, die keinen Job finden, selbst wenn sie gut ausgebildet sind“, sagt Amaeshi.

Aus seiner Sicht ist ein entscheidender Grund dafür, dass man auch nach dem Ende der Kolonialzeit auf westliche Formen des Kapitalismus gesetzt habe, die kurzfristige Gewinne in den Vordergrund stellen, anstatt lokale Formen des Wirtschaftens und des Unternehmertums zu entwickeln und somit an die gemeinschaftlichen Traditionen Afrikas anzuknüpfen.

Als Professor am European University Institute in Florenz forscht Amaeshi zu den Themen nachhaltige Entwicklung und Finanzierung im globalen Süden. Seit 2022 ist er zudem der oberste Wirtschaftsberater der Imo-Regierung. Somit hat er direkten Einfluss auf das, was dort erprobt und umgesetzt wird.

2. Was ist der Ansatz?

Aus der Idee heraus, dass Afrika eine dem eigenen Traditionen und Herausforderungen angemessene Version des Kapitalismus benötigt, hat Tony Elumelu, ein nigerianischer Unternehmer und Philanthrop, das Konzept des „Africapitalism“ entwickelt. Im Kern ist es eine positive Vision des Kapitalismus, die davon ausgeht, dass afrikanische Unternehmen und Unternehmer*innen eine zentrale Rolle dabei spielen können, Wohlstand für alle zu schaffen und die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Für Amaeshi knüpft sie zugleich an die in Afrika weit verbreitete Ubuntu-Philosophie an. Das Wort lässt sich nicht mit nur einem einzelnen Ausdruck übersetzen. Vielmehr ist es eine moralische Grundhaltung, die den Menschen als Teil einer größeren Gemeinschaft begreift. Die zentrale Prämisse lautet: „Ich bin, weil wir sind.“ Dabei stehen nicht das Individuum und seine Bedürfnisse im Vordergrund, sondern Kooperation, geteilter Wohlstand und ein harmonisches Zusammenleben.

„Africapitalism“, sagt Amaeshi, „ist bisher vor allem ein theoretisches Konzept, das den Raum für neue Debatten eröffnet hat.“ Natürlich gebe es aber Fragen und Zweifel, ob und wie es sich in die echte Welt überführen lasse. Umso wichtiger sei es deshalb, das Konzept in der Praxis zu testen.

Genau das passiert derzeit im Bundesstaat Imo. Dort hat die Regierung unter der Führung von Senator Hope Uzodimma im Jahr 2022 die „One Kindred One Business Initiative“ (OKOBI) ins Leben gerufen. Die bei den Igbo „Umunna“ genannten familiären Netzwerke haben schon immer eine große Rolle bei der Lösung von Konflikten und Problemen gespielt. Diese gemeinschaftlichen Strukturen sollen nun auf die Gründung neuer Unternehmen übertragen werden. Im Mittelpunkt soll nicht das Individuum, sondern das Kollektiv stehen, egal ob es sich dabei um eine Familie, ein Dorf oder eine religiöse Gemeinschaft handelt. Der Bundesstaat unterstützt solche Gruppen mit Startkapital, Schulungen und ganz praktischen Hilfen, etwa bei der Registrierung eines Unternehmens. Einzige Bedingung: Das Unternehmen muss mehr als nur einer Person gehören und ein Problem der Gemeinschaft adressieren, das sich unternehmerisch lösen lässt.

Unter dem OKOBI-Dach sind bereits über 400 Unternehmen entstanden. Ein Beispiel ist Feedwell Food Processing, das Cassava weiterverarbeitet, um die Wertschöpfung in der Region zu steigern. Ein anderes ist Akuyoma Amaimo. Anwält*innen, Ärzt*innen und Ingenieur*innen aus der Kleinstadt Amaimo haben sich zusammengetan, um einen kleinen Private-Equity-Investor zu gründen, der lokalen Unternehmen bezahlbare Kredite zur Verfügung stellt. „Es ist eine Art unternehmerische Grassroots-Bewegung, die schnell an Fahrt aufgenommen hat”, sagt Amaeshi.

3. Was ist das Projekt am Institut?

„Zum einen versuchen wir, besser zu verstehen, was da gerade eigentlich passiert“, sagt Amaeshi. Das Africapitalism-Konzept im Bundesstaat Imo in die Praxis umzusetzen, sei ein großer Schritt gewesen. Nun sei es aber genauso wichtig, aus der Praxis zu lernen und ihr einen theoretischen Rahmen zu verleihen. „Die Fragen, die uns beschäftigen, lauten unter anderem: Wie kann der OKOBI-Ansatz noch mehr Wirkung entfalten? Und wie lässt er sich skalieren, vielleicht auch über den Bundesstaat und Nigeria hinaus?“

Am THE NEW INSTITUTE arbeitet Amaeshi mit einem insgesamt elfköpfigen Team aus Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen. Dazu gehören unter anderem: Naomi Nwokolo, Direktorin des Global Compact in Nigeria, der größten UN-Initiative für unternehmerische Nachhaltigkeit, Camille Meyer ist Professor für soziale Innovationen und Unternehmertum in Südafrika. Außerdem Maria Etemore Glover, die als CEO der Impact Investors Foundation in Nigeria privates Kapital für soziale Investments mobilisiert.

Foto von Luzia Cruz

Ein konkretes Ergebnis der Arbeit am Institut ist das umfangreiche Handbuch zur Gründung gemeinschaftsorientierter Unternehmen in Afrika, das vom Team um Amaeshi entwickelt und verfasst wurde. Der erste Teil gibt dem OKOBI-Ansatz einen theoretischen Rahmen und ermöglicht es Unternehmen, Politiker*innen und anderen Entscheider*innen, sich mit dem Konzept und den dahinterliegenden Prinzipien vertraut zu machen. Der zweite Teil ist eine ganz praktische Gebrauchsanleitung. Wie gründe ich ein solches Unternehmen? Wie identifiziere ich das Problem? Welche Partner sind notwendig? Was ist wichtig für den Erfolg? All das wird in fünf Schritten auf Basis der Erfahrungen im Imo-Bundesstaat klar und verständlich umrissen. „Das Ziel ist es, den Ansatz möglichst replizierbar zu machen“, sagt Amaeshi. „Mit dem Handbuch gibt es dafür nun ein ganz praktisches Tool.“

Einen großen Hebel, um den Ansatz zu skalieren, sehen Amaeshi und sein Team bei Unternehmen. Im Rahmen ihrer Corporate Social Responsibility (CSR) engagieren sich viele bereits in afrikanischen Ländern, unterstützen Schulen, bauen Straßen oder Brunnen. „Das ist gut gemeint. Die Wirkung ist aber oft begrenzt, da die strukturellen Probleme von Armut und Arbeitslosigkeit dadurch nicht gelöst werden“, sagt Amaeshi. Zudem würden dadurch neue Abhängigkeiten geschaffen. Besser sei es, die Menschen zu befähigen, sich selbst zu helfen. „Wenn Unternehmen das erkennen, können sie im Rahmen des OKOBI-Ansatzes effektiv Hilfe zur Selbsthilfe leisten“, so Amaeshi.

Um das Konzept bekannter zu machen, hat Amaeshi mit seinem Team während ihrer Zeit am THE NEW INSTITUTE mehrere Artikel veröffentlicht, unter anderem in der nigerianischen Zeitung Premium Times. In dieser Woche, vom 4. bis 6. Juni, wird außerdem die Africapitalism-Konferenz mit führenden Vertretern aus Wirtschaft, NGOs und internationalen Institutionen in den Räumen des Instituts stattfinden. Auf ihr wird auch das Handbuch vorgestellt. „Das Institut ist für uns eine fantastische Plattform, um den OKOBI-Ansatz zu reflektieren und ihn mit Partnern über Nigeria hinaus in die Praxis umzusetzen“, so Amaeshi.

4. Und was bedeutet das für den Kapitalismus?

Weil sich der Kapitalismus von Land zu Land unterscheidet, braucht es laut Amaeshi auch unterschiedliche Ansätze, um ihn zu adaptieren und zu zähmen. Für ihn ist Africapitalism eine Form des Kapitalismus, die die Probleme Afrikas in den Mittelpunkt rückt und an gemeinschaftliche Traditionen und Werte andockt. Gleichzeitig könnten Ansätze wie OKOBI die Kapitalismus-Debatten auch über Afrika hinaus inspirieren. „Fast überall sind die meisten Menschen Arbeitnehmer*innen, die ihre Arbeitskraft an Unternehmen verkaufen“, sagt Amaeshi. OKOBI macht die Menschen dagegen zu Miteigentümern. „Es ist eine neue Form des gemeinschaftlichen Unternehmertums.“

Das Africapitalism-Programm am THE NEW INSTITUTE endet im Juni. Kenneth Amaeshi möchte die Arbeit am Projekt jedoch fortsetzen. Organisationen, Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen, die dazu einen Beitrag leisten können und wollen, können Amaeshi hier per E-Mail kontaktieren.

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