Eine Newsletter-Serie von Felix Rohrbeck
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Liebe Leser*innen,
ich möchte mich kurz vorstellen, denn Sie werden von mir in den kommenden Monaten noch öfter lesen. Mein Name ist Felix Rohrbeck, ich bin Wirtschaftsjournalist und derzeit Media Fellow am THE NEW INSTITUTE. Wie Sie vielleicht wissen, lautet das aktuelle Jahresthema „Re-thinking Capitalism“. Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus ganz unterschiedlichen Teilen der Welt denken hier am Institut darüber nach, wie man den Kapitalismus besser machen und Lösungsansätze für einige der großen Krisen unserer Zeit entwickeln kann. Das ist, um es vorsichtig auszudrücken, keine leichte Aufgabe. Aber es ist ein spannendes Experiment. Als Media Fellow werde ich es mit einer kleinen Serie von Newslettern begleiten und über die Ideen und Projekte der Fellows so konkret und verständlich wie möglich berichten. Stellen Sie sich das Ganze als eine Reise in die Gedankenwelt hier am THE NEW INSTITUTE vor. Ich werde versuchen, Ihnen ein guter Reiseführer zu sein!
Los geht es in diesem Newsletter mit einem Thema, das uns alle angeht: Essen. Kurz gesagt ist die Art und Weise, wie wir auf der Welt Nahrung produzieren, nicht nur ungerecht, sie schadet auch dem Klima und unserer Gesundheit. Wie aber kann man das ändern? Schon als Produktionsminister von Peru hat José Luis Chicoma diese Frage umgetrieben. Nun, als Fellow am THE NEW INSTITUTE, will er mit einem Team aus das Playbook entwickeln, das ihm damals gefehlt hat.
Felix Rohrbeck
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Ein ehemaliger Produktionsminister plant ein besseres Lebensmittelsystem
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Als Produktionsminister von Peru wollte José Luis Chicoma das Nahrungssystem gerechter und nachhaltiger machen. Das Playbook, das ihm damals gefehlt hat, will er nun am THE NEW INSTITUTE entwickeln.
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1. Was ist eigentlich das Problem?
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Wenn José Luis Chicoma das große Paradox erklären soll, das ihn schon so lange beschäftigt, früher als Produktionsminister von Peru und nun als Fellow am THE NEW INSTITUTE, beginnt er meist mit einem kleinen Fisch, der peruanischen Sardelle. Sie lebt im südöstlichen Pazifik, vor der Küste von Peru, und wird nicht mehr als 20 Zentimeter groß. Für die Fischerei aber ist sie von überragender Bedeutung. Zwischen drei und acht Millionen Tonnen von ihr werden pro Jahr aus dem Meer geholt. Die peruanische Sardelle ist damit der meistgefangene Fisch der Welt.
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„Man sollte daher meinen, dass für die Peruaner*innen mehr als genug Fisch vorhanden ist“, sagt Chicoma, der am Institut das Programm „Future of Food“ leitet. „Doch dem ist nicht so.“ Mehr als 95 Prozent der Sardellen werden in Fabriken zu Fischmehl oder Fischöl verarbeitet und dann exportiert, nach China oder Europa zum Beispiel. Dort werden die Sardellen zum Beispiel an Hühner, Schweine oder Lachse verfüttert, während die Hälfte der 34 Millionen Peruaner*innen an Mangelernährung leidet.
Für Chicoma sind die Sardellen Teil eines kaputten Systems, das paradoxe Ergebnisse produziert: „Wie kann es sein, dass ausgerechnet ein landwirtschaftlich so reiches Land wie Peru immer wieder mit Mangelernährung und Nahrungskrisen zu kämpfen hat? Warum exportieren wir nahrhafte und proteinreiche Sardellen aus den eigenen Gewässern als Fischmehl in den Westen und nach Asien und essen selbst immer mehr Pasta und Pommes?“
Für Chicoma liegt die Antwort nicht nur in Peru. Vielmehr ist das Land für ihn ein Mikrokosmos, an dem man studieren kann, warum die Art und Weise, wie wir auf der Welt Nahrung produzieren, nicht mehr funktioniert, weshalb sie dem Klima und der Biodiversität schadet, zu ungerechten und auch ungesunden Ergebnissen führt – und deshalb, das ist seine Mission, dringend repariert werden muss.
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Um die Arbeit von Chicoma besser zu verstehen, beginnt man am besten bei dem Anruf, der ihn 2020 zum Minister macht. Er ist damals 44 Jahre alt, lebt in Mexiko-Stadt und leitet einen Think Tank mit etwas mehr als 30 Mitarbeitenden. Es ist ein anspruchsvoller Job, aber für Chicoma, der in seinem Heimatland Peru schon mit Anfang Dreißig als Vizeminister für kleine und mittlere Unternehmen politische Verantwortung übernommen hat, ist es auch eine Zeit, in der er sein Leben und das mexikanische Essen genießt, nicht nur arbeitet, sondern auch ein Privatleben hat.
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José Luis Chicoma, Foto von Maximilian Glas
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Dann aber überschlagen sich die Ereignisse in Peru. Innerhalb einer Woche wird ein Staatspräsident gestürzt und sein Nachfolger unter dem Druck von Massenprotesten zum Rücktritt gezwungen. Es ist eine der größten, politischen Krisen in der Geschichte des Landes. In diesem Chaos ist es schließlich der gemäßigte Reformer Francisco Sagasti, der als Interimspräsident übernimmt (und ab Mai 2025 ebenfalls Fellow am THE NEW INSTITUTE sein wird). Kurz darauf, so erinnert sich Chicoma, habe Sagasti ihn angerufen. „Ich hatte 45 Minuten, um mir zu überlegen, ob ich den Ministerjob annehme.“ Noch am selben Tag legt er seinen Amtseid über eine Zoom-Call ab. Am Tag darauf fliegt er zurück nach Peru, als Produktionsminister.
Damals, mitten in der Corona-Krise, geht es vor allem um akute Unterstützungsprogramme für die peruanische Wirtschaft. Doch Chicoma will auch nachhaltige Impulse setzen. Normalerweise, so beschreibt er es, habe der Produktionsminister in Peru eine einzige Aufgabe: die Produktion zu steigern. Er selbst aber habe das anders gesehen, gerade wenn es ums Essen geht. „Ich wollte das Peru nicht nur mehr, sondern auch gesündere und nachhaltigere Nahrungsmittel produziert, von denen auch die Menschen vor Ort etwas haben. Gerade beim Essen sollte es doch nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität gehen – und darum, dass es diejenigen erreicht, die es wirklich benötigen.“
Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, steht allerdings im Widerspruch zu der Art und Weise, wie derzeit Nahrungsmittel produziert werden, nicht nur in Peru, sondern auf der ganzen Welt. So zumindest sieht es Chicoma. Für ihn ist es ein System voller Widersprüche:
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Ausgerechnet dort, wo die Nahrung hergestellt wird, auf dem Land, leiden besonders viele Menschen unter Hunger.
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Obwohl es auf der Welt rund sechstausend essbare Nutzpflanzen gibt, die die Biodiversität stärken könnten, stammt fast die Hälfte der weltweit konsumierten Kalorien aus nur drei Getreidesorten: Weizen, Mais und Reis.
Anstatt das, was auf den Feldern wächst, möglichst frisch zu essen, wird es oft aufwendig weiterarbeitet zu Industrieprodukten, die uns übergewichtig und krank machen. Oder es wird an Tiere verfüttert, von denen wir viel zu viele essen, was einer der größten Treiber des Klimawandels ist.
Chicoma könnte diese Aufzählung noch eine Weile fortsetzen. Die Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren, hält er für ungesund, ungerecht und zerstörerisch. Als Produktionsminister will er zumindest versuchen, andere Impulse zu setzen. Aber wie?
Das Erste, was er zu spüren bekommt, ist die Macht der industriellen Fischerei-Unternehmen. Es sind jene Unternehmen, die auch den Markt der peruanischen Sardellen kontrollieren, sie zu Fischmehl verarbeiten und ins Ausland exportieren. Sie sind gut organisiert und geben Chicoma zu verstehen, dass sie von ihm erwarten, dass er sich wie seine Vorgänger jede Woche mindestens eine Stunde Zeit für sie nimmt – um sich ihre Sorgen und Interessen anzuhören. Chicoma lehnt das ab. Stattdessen organisiert er eine Gegenlobby, die die Interessen der lokalen, oft unter Armut leidenden Fischern mehr Gehör verschaffen soll.
Vor allem aber stärkt Chicoma die traditionellen Lebensmittelmärkte. Es gibt sie in Peru in jeder Stadt, es werden Fische, Früchte, Gemüse und Gewürze angeboten. Seit den 1990er Jahren aber machen sich in Peru zunehmend auch große Supermärkte breit. In ihnen kommen nur die perfekt aussehenden Tomaten ins Regal, alles ist standardisiert. „Das aber schließt viele kleine Landwirte aus“, sagt Chicoma. Auch die Biodiversität leide. „In den Supermärkten gibt es 50 verschiedene Joghurts, aber nur ein paar Kartoffelsorten. Und das, obwohl die Kartoffel ursprünglich aus Peru stammt. Dort gibt es mehr als 3.000 verschiedene Sorten: gelbe, violette und weiße.“ Einige Kartoffelsorten sind resistent gegen Schädlinge, andere halten lange Dürren und extreme Kälte aus. Im Supermarkt haben sie keinen Platz.
Traditionelle Lebensmittelmärkte stärken also nicht nur die Landwirte, sondern auch die Biodiversität. Chicoma stärkt sie durch höhere Budgets und Zusagen verschiedener Ministerien, sorgt dafür, dass sie auf der politischen Agenda eine größere Rolle spielen. Er sendet damit auch ein Signal: Die Zukunft soll auch ihnen gehören, nicht nur den Supermärkten.
Es sind Interventionen, auf die Chicoma bis heute stolz ist. Doch seine Amtszeit als Minister ist kurz. Es ist eine Übergangsregierung. Nach neun Monaten ist Schluss.
Chicoma hätte sich als Minister aber nicht nur mehr Zeit gewünscht, sondern auch eine Art Playbook: Wie baut man ein gerechteres, gesünderes und nachhaltigeres Ernährungssystem? „Ich habe damals auch international nach Vorbildern und Maßnahmen gesucht, an denen ich mich orientieren kann, etwa um traditionelle Lebensmittelmärkte zu stärken. Eine solches Playbook aber gab es nicht.“
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3. Was ist das Projekt am Institut?
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Etwas vereinfacht könnte man sagen: Chicoma will das Playbook entwickeln, das er sich selbst als Minister gewünscht hätte. Das Besondere am THE NEW INSTITUTE ist, dass er sich dafür als Leiter des Programms „Future of Food“ ein ganzes Team aus Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen zusammenstellen konnte, die ebenfalls Fellows am Institut sind, gemeinsam im Warburg Ensemble an der Hamburger Alster leben, arbeiten und nach Lösungen suchen. Es gibt regelmäßige Runden, in denen das Team zusammenkommt. Man unterhält sich aber auch beim Mittagessen, an der hauseigenen Bar, nach Vorträgen, in der Bibliothek – und das nicht nur mit den Fellows des eigenen Teams, sondern auch mit denen, die sie sich mit ganz anderen Themen beschäftigen. Das alles soll Raum für neue Ideen schaffen. „Es ist ein Ort, um groß zu denken“, sagt Chicoma.
Zu seinem neunköpfigen Team gehören zum Beispiel:
Kristin Reynolds, Leiterin des Food Studies Program an der New School in New York, die erforscht, wie Nahrungsmittelsysteme gerechter gestaltet werden können. Nicolás Rovegno, Lateinamerika-Regionalkoordinator der Fisheries Transparency Initiative, die sich für mehr Transparenz und Nachhaltigkeit in der Fischereiindustrie einsetzt. Und die Anthropologin Emma McDonnell, die in ihrem kürzlich erschienenen Buch „The Quinoa Bust“ zeigt, wie aus einem einfachen Andengetreide eine nachhaltige Wunderpflanze wurde – und welche unbeabsichtigten Folgen dies hatte.
Was dabei herauskommen wird? Noch ist das „Future of Food“-Team mitten im Prozess. Anfang März etwa hat es Vertreter*innen von UN-Organisationen wie dem World Food Programme (WFP) oder dem United Nation Development Programme (UNDP) zu einer dreitägigen Konferenz am Institut eingeladen. Auch der WWF, Slow Food International und Bioversity International waren neben vielen anderen Organisationen vertreten. Chicoma und sein Team konnten ihre Ideen und Ansätze auf der Konferenz mit ihnen diskutieren und einem ersten Praxistest unterziehen.
Im Sommer, am Ende der gemeinsamen Arbeit am Institut, soll ein Bericht erscheinen, der der Debatte zur Zukunft des Ernährungssystems neue Impulse gibt, auch konkrete Empfehlungen und Maßnahmen enthält – und im besten Fall zu dem Playbook wird, das sich Chicoma als Minister gewünscht hätte.
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Future of Food Advisory Committee, Foto von Maximilian Glas
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„Gerade beschäftigen wir uns zum Beispiel viel mit dem Ansatz der Agrarökologie“, sagt Chicoma. Darunter versteht man, grob gesagt, die Anwendung ökologischer Prinzipien auf landwirtschaftliche Systeme. Die Maya und andere Völker Mittelamerikas etwa haben früher Kürbis, Mais und Bohnen zusammen angebaut, weil die Pflanzen voneinander profitieren. Der Mais fungierte als Kletterstange für die Bohnen. Die Bohnen brachten Stickstoff in den Boden ein, der von den anderen Pflanzen genutzt wurde. Der Kürbis verdeckte Unkraut. „Solche Anbaumethoden funktionieren ganz ohne künstlichen Dünger und steigern die Biodiversität“, sagt Chicoma. „Es spricht vieles dafür, sie wieder stärker zu nutzen.“
Aber lassen sich solche Ansätze in der Praxis wirklich umsetzen? „Es wäre naiv zu glauben, dass ein Wandel unseres Ernährungssystems möglich ist, ohne mit bestehenden Machtstrukturen zu brechen“, sagt Chicoma. Deshalb beschäftigt sich das Team auch mit radikalen Maßnahmen, Landreformen zum Beispiel. „Wer das Ackerland kontrolliert, hat großen Einfluss darauf, was und wie angebaut wird“, sagt Chicoma.
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Eine Umverteilung von Land ist daher ein großer Hebel, das System zu verändern.
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Auch in „Food Councils“ internationaler Organisationen wie der UN und auf nationalem Level, sagt Chicoma, müsse die Macht anders verteilt werden. Klassischerweise kommen dort alle Stakeholder zusammen: Wissenschaft, Landwirtschaft, NGOs, Behörden, Konzerne. Im Grunde ist das eine gute Idee. Das Problem sei aber, so Chicoma, dass die Konzerne aufgrund ihrer enormen finanziellen Ressourcen oft am besten vorbereitet seien und ihre Interessen erfolgreich durchsetzen würden – auch wenn sie dem Wandel hin zu einem gerechten, nachhaltigen und gesunden Ernährungssystem entgegenstehen. Chicomas Vorschlag: „Man sollte sie in manchen Fällen einfach von diesen Runden ausschließen. Unternehmen etwa, die hochverarbeitete Produkte herstellen, sollten nicht in die Diskussion darüber einbezogen werden, wie ihre Produkte reguliert werden.“
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4. Was bedeutet das für den Kapitalismus?
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Wenn über die Zukunft des Kapitalismus diskutiert wird, geht es oft um Finanzmärkte, Tech-Monopole oder die zunehmende ökonomische Ungleichheit. Selten aber geht es um unser Ernährungssystem, obwohl es für ein absolut essentielles und unentbehrliches Gut sorgt: Nahrung.
Chicoma will den Kapitalismus nicht abschaffen. Aber er glaubt, dass wir unser Essen nicht als normale Ware betrachten sollten, von der Konzerne im industriellen Stil so viel wie möglich produzieren. Es sei stattdessen ein sehr besonderes Gut, von dem unser Überleben und unser aller Gesundheit abhängt – und das deshalb eine Sonderrolle innerhalb des kapitalistischen Systems verdient habe.
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Hamburg is our home. The world is our habitat. The future is our concern.
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