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THINKING

CAPITALISM

Eine Newsletter-Serie von Felix Rohrbeck

Liebe Leser*innen,

heute wird es radikal. Am THE NEW INSTITUTE denken derzeit Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen darüber nach, wie man den Kapitalismus besser machen könnte. Einer Gruppe um den japanischen Philosophen Kohei Saito geht das angesichts der Klimakrise aber noch nicht weit genug. Sie will den Kapitalismus ganz abschaffen. Berühmt wurde Saito mit einem Buch, in dem er den späten Karl Marx zum Vordenker einer nachhaltigen Degrowth-Wirtschaft umdeutet. Jetzt, als Program Chair am THE NEW INSTITUTE, denkt er mit seinem Team darüber nach, wie eine Planwirtschaft funktionieren könnte, die nicht zu bürokratischer und zentralistischer Kontrolle führt, sondern die Entscheidung, was und wie viel produziert wird, in die Hände möglichst vieler legt.

Ich selbst bin Wirtschaftsjournalist und derzeit Media Fellow am THE NEW INSTITUTE. In einer kleinen Serie von Newslettern versuche ich über einige der Ideen und Projekte hier am Institut so konkret und verständlich wie möglich zu berichten. Zugegeben: Es ist mir nicht leicht gefallen, mir das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Aber ich habe mich darauf eingelassen und möchte es auch Ihnen empfehlen. Es lohnt sich!

Felix Rohrbeck


Eine Planwirtschaft für das 21. Jahrhundert 

Sein Buch über Karl Marx als Vordenker einer nachhaltigen Degrowth-Wirtschaft hat Kohei Saito berühmt gemacht. Jetzt will er am THE NEW INSTITUTE eine demokratische Planwirtschaft entwickeln. 

1. Was ist das Problem?

Für Kohei Saito ist die Klimakrise innerhalb des Kapitalismus nicht zu lösen.  Für ihn ist es ein System, in dem es nur um den Profit geht, und deshalb immer mehr Güter produziert werden, um immer mehr Geld zu verdienen. Der Kapitalismus strebe nach ständiger Expansion, nach unendlichem Wachstum – und stoße dabei zwangsläufig irgendwann auf die Grenzen der Natur. Alle gut gemeinten Versuche, ihn etwa durch staatliche oder technologische Maßnahmen zu zähmen und mit dem Klima und anderen planetaren Grenzen in Einklang zu bringen, seien zum Scheitern verurteilt.

In seinem Buch nennt Saito, der als Program Chair am THE NEW INSTITUTE das Programm „Beyond Capitalism“ leitet, das Elektroauto als Beispiel. Theoretisch soll es den Kapitalismus grüner machen, Wirtschaftswachstum und klimaschädliche Emissionen voneinander entkoppeln. Tatsächlich aber würden für die Batterien Lithium und Kobalt im großen Stil abgebaut, was in Ländern wie Chile oder dem Kongo die Umwelt zerstöre. Auch die Arbeitsbedingungen seien oft katastrophal.

Der Kapitalismus, so sieht es Saito, führe letztlich immer zur Ausbeutung von Mensch und Natur.

Es ist eine radikale Kritik. Doch sie hat einen Nerv getroffen. Allein in Japan hat sich „Systemsturz“ mehr als 500.000 Mal verkauft. Viele Menschen, sagt Saito, haderten mit dem Kapitalismus, gleichzeitig aber werde kaum darüber diskutiert, mit welchen Alternativen sich der viel zu hohe Verbrauch von Ressourcen in den Griff kriegen lasse. Meist gehe es nur darum, wie man den Kapitalismus ein bisschen besser, gerechter oder grüner machen könne. Ihn durch etwas Neues zu ersetzen, gelte als aussichtslos. Der kürzlich verstorbene Kulturtheoretiker Fredric Jameson, sagt Saito, habe das in einem einzigen Satz sehr gut auf den Punkt gebracht: „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.“ 

Foto von Bettina Theuerkauf

2. Was ist der Ansatz?

Kohei Saito beginnt 2015 als Teil eines internationalen Forscherteams mit der Auswertung von rund 800 Seiten handschriftlicher Notizen von Karl Marx für die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Die schwer entzifferbaren Notizen, in altertümlichem Deutsch, Englisch und Französisch, stammen aus Marx’ späten Jahren. „Marx hatte eine ziemliche Sauklaue“, bemerkt Saito.

Es ist ein Projekt, das außerhalb der Fachwelt kaum jemand mitbekommt. Zwar ist Marx der wohl wichtigste Vordenker des Kommunismus, dessen Konterfei es sogar auf das Cover eines Beatles-Albums geschafft hat. Seit dem Ende der Sowjetunion aber gelten seine Ideen als gescheitert und überholt. Wer heute nach Lösungen für drängende Probleme wie den Klimawandel sucht, beginnt in der Regel nicht bei Karl Marx, einem Ökonomen aus dem 19. Jahrhundert mit weißem Rauschebart.

Kohei Saito aber macht genau das – und entdeckt in Marx’ späten Notizen einen Denker, der sich intensiv mit ökologischen Fragen und Naturwissenschaften wie Geologie, Botanik und Chemie auseinandersetzte. Während einige dieser Überlegungen ins „Kapital“ einflossen, blieb vieles unvollendet. Saito rekonstruiert daraus eine neue Perspektive auf Marx’ Werk: Der Kapitalismus, so Marx, verursacht einen „unheilbaren Riss“ im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur. Inspiriert von Justus von Liebig entwickelte er die „Stoffwechseltheorie“, die den Menschen als Teil der Natur begreift und den Kapitalismus als Störung dieses Gleichgewichts anklagt.

Zudem interessierte sich Marx für nachhaltige Gemeinschaften wie russische Mir-Kommunen oder altgermanische Markgenossenschaften. Saito interpretiert dies als Vision einer egalitären, nachhaltigen Degrowth-Wirtschaft – ein radikaler Bruch mit der kapitalistischen Logik.

3. Was also können wir vom alten Marx lernen?

„Natürlich“, sagt Saito, „wusste Marx noch nichts vom Klimawandel. Deshalb kann er uns auch nicht sagen, was genau wir heute tun müssen.“ Aber wenn man sich darauf einlasse, ihn nicht als Vordenker eines gescheiterten Ostblock-Sozialismus abzutun, sondern ihm auch in seine späte Gedankenwelt folge, könne man durchaus etwas von ihm lernen.

Marx, so sieht es Saito, führe einen im ersten Schritt zu der Erkenntnis, dass der Kapitalismus das Grundproblem sei und deshalb überwunden werden müsse. In einem zweiten Schritt skizziere er auch die Richtung, in die wir heute denken sollten. Wenn er zum Beispiel schreibe, dass im zukünftigen Kommunismus die individuelle Produktion durch „genossenschaftlichen“ Reichtum ersetzt wird, meine er damit nichts anderes als das, was heute unter dem Begriff „Commons“ diskutiert wird, also Ressourcen, die von einer Gemeinschaft gemeinsam genutzt und verwaltet werden. Das kann Land oder Wasser sein, aber auch ein nachbarschaftlich betriebener Supermarkt.

Das Schöne an den Commons ist, dass sie bereits existieren, als kleine kommunistische Inseln innerhalb des kapitalistischen Systems. Ein realistischer Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus besteht für Saito daher darin, diese kommunistischen Inseln systematisch zu vergrößern und auszuweiten – bis sie den Kapitalismus vollständig verdrängt haben. 

Foto von Marx/Saito Stempel im Buch. Foto: Maximilian Glas

4. Was ist das Projekt am Institut?

Saitos Buch „Systemsturz“ war ein enormer Erfolg. Doch was hat es verändert? Saito selbst zieht eine nüchterne Bilanz: „Nichts hat sich wirklich verändert. Ich bin nur berühmt geworden, trete auf Bühnen und im Fernsehen auf. Man könnte sagen: Der Kapitalismus hat mich konsumiert.“ 
 
Schon Marx argumentierte, dass nicht das Bewusstsein der Menschen ihr Sein verändert, sondern umgekehrt das Sein ihr Bewusstsein. Daraus leitet auch Saito ab, was er „radikale Hoffnung“ nennt. Er glaubt, dass die Klimakrise mit dem Kapitalismus nicht zu lösen ist, dass darin aber auch eine Chance liegt.

„Je schlimmer sie wird, desto eher sind wir bereit, umzudenken und radikal umzusteuern.“

Wenn wir den Planeten nicht zerstören wollen, so Saito, müssten wir uns auf eine Art Kriegswirtschaft einstellen, in der nicht mehr die Kräfte des freien Marktes darüber entscheiden, was mit welchen Ressourcen produziert wird, sondern der Staat. Nur so könnten wir sicherstellen, dass wir unsere Lebensgrundlagen nicht zerstören. Das würde aber viel Planung erfordern, man könnte auch sagen: eine Planwirtschaft. In der Vergangenheit – siehe Sowjetunion – führte das zu bürokratischer und zentralistischer Kontrolle und endete in totalitären Systemen.

Wie also könnte eine Planwirtschaft im 21. Jahrhundert funktionieren, die auf demokratischen Prinzipien beruht? Das ist die Kernfrage, an der Saito mit einem siebenköpfigen Team am THE NEW INSTITUTE arbeitet. Dazu gehören unter anderem Aaron Benanav, Assistant Professor am Department of Global Development der Cornell University, der Wirtschaftshistoriker und Degrowth-Experte Matthias Schmelzer von der Universität Flensburg und die Journalistin Tatjana Söding, die auch am Zetkin Collective forscht.

Im Grunde ist es eine Art dritter Weg, den das Team zu beschreiten versucht: Weder der Markt soll entscheiden, was produziert wird, noch ein autoritäres, zentralistisches Regime. Stattdessen sollen die Entscheidungen in die Hände möglichst vieler Menschen gelegt werden. Das folgt der Idee eines „Degrowth-Kommunismus“, also der Verbindung von marxistischer Theorie mit der Vorstellung einer Wirtschaft, die nicht wächst, sondern schrumpft, in der nicht immer mehr, sondern weniger produziert und konsumiert wird.

Wie das genau funktionieren soll? Die Technik, sagt Saito, sei im Grunde schon da. Große Konzerne wie Amazon würden mithilfe von Künstlicher Intelligenz planen, was und wieviel in den Lagern vorgehalten werden müsse. Die Entscheidungen würden derzeit aber ausschließlich danach getroffen, was Profit verspreche. Es müsse daher darum gehen, Plattformen zu entwickeln, über die die Produktion im Sinne des Gemeinwohls und der Umwelt geplant werden könne – und zwar nach demokratischen Prinzipien.

Das wirft viele Fragen auf: Wo würde man beginnen? Wie könnte man solche Modelle im Kleinen ausprobieren? Wer dürfte was mitbestimmen? Wieviel Menschen hätten Lust dazu? Es sind Fragen, über die Saito mit seinem Team derzeit intensiv nachdenkt. Solange die Antworten noch nicht klar sind, fällt es natürlich leicht, dass alles als völlig unrealistisch abzutun. Andererseits: So richtig schlüssig können ja auch die Verfechter des Kapitalismus nicht darlegen, wie genau die Klimakrise innerhalb des derzeitigen Wirtschaftssystems gelöst werden soll. Das THE NEW INSTITUTE soll daher auch ein Ort sein, an dem radikale Alternativen gedacht und weiter ausbuchstabiert werden dürfen. Wie sonst soll man sie sich zumindest einmal vorstellen und darüber diskutieren können?

Am THE NEW INSTITUTE selbst haben die Gedanken von Kohei Saito und seinem Team schon jetzt gewinnbringende Kontroversen in den anderen, weniger radikalen Programmen ausgelöst. Sie wirken auch über das THE NEW INSTITUTE hinaus. Mit öffentlichen Veranstaltungen, etwa im ausverkauften Hamburger Thalia Theater, aber auch in zahlreichen Interviews, wie zuletzt mit Dirk Steffens im GEO Magazin, hat Saito seine neuen Ideen bereits in die öffentliche Debatte eingebracht. Zugleich arbeitet er an seinem nächsten Buch, in dem sie weiter konkretisiert werden sollen. Er ist überzeugt: „Wir müssen einen demokratischen Weg zur Planung der Produktion finden, die unseren Planeten nicht zerstört.“ 

Foto von Maximilian Glas

5. Was bedeutet das für den Kapitalismus? 

Saito glaubt, dass wir angesichts der sich verschärfenden Klimakrise keine andere Wahl haben, als ihn abzuschaffen. Er stellt sich vor, dass der Kapitalismus von oben und unten in die Zange genommen wird. Von oben, weil die die Regierungen harte Maßnahmen ergreifen und eine Art Kriegswirtschaft einführen. Von unten, weil neue Projekte demokratischer Planung entstehen, die uns vor zu viel Zentralismus bewahren. 

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