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THINKING

CAPITALISM

Eine Newsletter-Serie von Felix Rohrbeck

Liebe Leser*innen,

wird in den USA in diesem Jahr noch ein fürchterlicher Hurricane wüten? Wenn Sie wollen, können Sie darauf wetten! Die Finanzmärkte machen es möglich.

Als Wirtschaftsjournalist habe ich selbst immer wieder zu komplexen Finanzthemen recherchiert. Von Beginn an war ich deshalb sehr neugierig auf das „Futures of Capitalism“-Programm am THE NEW INSTITUTE, bei dem die Rolle der Finanzmärkte im Mittelpunkt steht. Angesichts neuer Allianzen zwischen Teilen der Finanzindustrie und der Regierung von Donald Trump ist das Thema hochaktuell. Es ist aber auch kompliziert und ich gebe zu, dass mir nach den Gesprächen mit Programmleiter Aris Komporozos-Athanasiou manchmal der Kopf gebrummt hat. Ich glaube, das hatte zwei Gründe. Erstens ist der Blick auf die Finanzmärkte, den er und sein Team entwickelt haben, neu und ungewohnt. Zweitens brauchte das Team, zu dem auch ein Künstler und eine Psychoanalytikerin gehören, selbst noch etwas Zeit, um eine Sprache zu finden, die den Ansatz auf den Punkt bringt.

Das THE NEW INSTITUTE ist ein Ort, an dem Raum und Zeit vorhanden ist, um solche Experimente auszuprobieren. Das konnte ich in den vergangenen Monaten als Media Fellow immer wieder beobachten. In einer kleinen Serie von Newslettern versuche ich, so konkret und verständlich wie möglich über einige der Ideen und Projekte zu berichten. Den Ansatz von Komporozos-Athanasiou und seinem Team habe ich mir (fast) bis zum Schluss aufgehoben. Für mich ist er im Laufe der Zeit immer klarer geworden. Im Kern geht es um die Frage: Was, wenn die Finanzmärkte nicht für Stabilität sorgen, sondern Krisen verschärfen und auf den Kollaps spekulieren?

Viel Freude bei der Lektüre
Felix Rohrbeck


Wenn Finanzmärkte auf den Kollaps wetten

Um die widersprüchliche und spekulative Rolle der Finanzmärkte in Zeiten des drohenden Kollapses besser zu verstehen, hat ein Team um den Kapitalismusforscher Aris Komporozos-Athanasiou am THE NEW INSTITUTE einen neuen Ansatz entwickelt: Collapse Finance.

1. Was ist das Problem?

Wer will, kann mittlerweile auch aufs Klima wetten. Wird in den USA in diesem Jahr noch ein fürchterlicher Hurricane wüten? Oder eine Flut die schönen Villen an Floridas Küste hinweg spülen? Der Finanzmarkt hat aus dem Klimawandel ein boomendes Geschäft gemacht. Ende 2024 steckten rund 50 Milliarden Dollar in sogenannten „Catastrophe Bonds“. Seit April 2025 können auch Kleinanleger*innen über einen ETF ganz unkompliziert mitmachen. Das Katastrophen-Kasino ist für jedermann geöffnet!

So zynisch „Catastrophe Bonds“ vielen Menschen erscheinen mögen: Dass die Finanzmärkte auch aus Krisen Profit zu schlagen versuchen, ist nicht neu. Neu aber, sagt Aris Komporozos-Athanasiou, der am THE NEW INSTITUTE das Programm „Futures of Capitalism“ leitet, seien zwei Dinge. Erstens seien die Risiken größer geworden, um die herum die Finanzmärkte ihre Produkte spinnen. Der Klimawandel und „Catastrophe Bonds“ seien dafür ein gutes Beispiel. Zweitens hätten sich auch die Finanzmärkte selbst verändert. Sie seien komplexer, volatiler und unberechenbarer geworden.

„Eigentlich“, sagt Komporozos-Athanasiou, „sind Finanzmärkte dafür gemacht, Risiken zu managen und für Stabilität zu sorgen. Was aber, wenn sie das stattdessen Krisen beschleunigen und auf den Kollaps spekulieren?“

Besonders in den USA, so Komporozos-Athanasiou, sei derzeit zu beobachten, wie Teile der Finanzmärkte mit der Regierung von Donald Trump eine Allianz eingegangen seien. Banken und Finanzinvestoren verabschieden sich reihenweise von Klimazielen und Nachhaltigkeitskriterien. Gleichzeitig profitieren sie vom Chaos, dass Trump mit seinen Zöllen an den Märkten verursacht hat. Während große Teile der Wirtschaft leiden, gibt es für Investmentbanker viele Möglichkeiten, das Auf und Ab an den Märkten auszunutzen. Die Wall-Street-Banken machen derzeit Rekordgewinne.

„Die Finanzmärkte leben von systemischer Instabilität und produzieren sie zugleich“, sagt Komporozos-Athanasiou, der am University College London das Centre for Capitalism Studies gegründet hat. Die klassische Ökonomie, die von rational handelnden Akteuren ausgehe und von Märkten, die stabilisieren, sei nicht darauf ausgelegt, solche Mechanismen angemessen zu erfassen.

Foto von Maximilian Glas

2. Was ist der Ansatz?

Um die Rolle der Finanzmärkte besser zu verstehen, hat Komporozos-Athanasiou mit seinem Team ein neues Framework erarbeitet, das sich Collapse Finance nennt. Damit ist gemeint, dass die Finanzmärkte in Zeiten des drohenden Kollapses oft eine widersprüchliche, spekulative Rolle einnehmen. Ihr zentrales Versprechen, sagt Komporozos-Athanasiou, lasse sich in einem Satz so zusammenfassen: „Die Welt mag auseinanderbrechen, aber keine Sorge: Dein Portfolio kann noch immer performen.“

Im Mittelpunkt des Frameworks steht deshalb nicht die Annahme des klassischen Homo oeconomicus, der nüchtern seinen eigenen Nutzen kalkuliert und darauf aufbauend recht vorhersagbare Entscheidungen trifft. Stattdessen entwerfen Komporozos-Athanasiou und sein Team die Figur des Homo speculans. „Er ist weder der rationale Akteur der klassischen Ökonomie noch der disziplinierte neoliberale Investor“, sagt Komporozos-Athanasiou. „Stattdessen muss er angesichts eines drohenden Zusammenbruchs handeln und zugleich über dessen Ausgang spekulieren. Er schwankt dabei zwischen Verleugnung und übertriebener Wachsamkeit, Fantasie und Vorfreude. Damit verkörpert der Homo speculans die gelebten Widersprüche eines Finanzsystems, das von systemischer Instabilität lebt.“

Man kann das auf den Umgang mit dem Klimawandel beziehen. Zunächst wird Nachhaltigkeit zum Megatrend erklärt und plötzlich klingen sogar die Vorstände institutioneller Anleger wie Klimaretter. Dann erscheint Trumps „Drill, Baby, Drill“ plötzlich doch wie eine lukrative Alternative – und Klimaziele werden revidiert, als hätte sich das Problem in Luft ausgelöst.

Die Finanzmärkte wetten auf einer andere Zukunft, in der weiter gebohrt werden darf, auch wenn das vielleicht den Kollaps unseres Planeten bedeutet. 

Anders, aber ähnlich unstet läuft es bei den Wetten auf Kryptowährungen. Es geht weniger um den praktischen Nutzen neuer Digitalwährungen als um ein fiebriges Auf und Ab fluktuierender Erwartungen. Das Ende des bisherigen, ja doch recht stabilen Geldsystems wird zum Teil regelrecht herbeigesehnt.

Das Collapse Finance-Framework ist noch keine fertige Theorie oder Denkschule. Vier Hypothesen aber formuliert Komporozos-Athanasiou:

1. Finanzmärkte sind stark von Imaginationen geprägt.
Nicht immer entscheidet das rationale Abwägen von Fakten. Finanzmärkte lassen sich von großen Erzählungen mitreißen. Gleichzeitig können sie entscheidend dazu beitragen, dass aus diesen Imaginationen tatsächlich Wirklichkeit wird. Das Geld folgt den Erzählungen – und formt die Realität.

2. Finanzmärkte mögen instabile Verhältnisse.
Die Wirtschaft, so heißt es immer, brauche vor allem Planungssicherheit. Aber gilt das auch für die Finanzmärkte? Wenn man davon ausgeht, dass sie von Marktschwankungen und turbulenten Verhältnissen profitieren, haben sie ein genuines Interesse daran, selbst zur Instabilität beizutragen.

3. Finanzmärkte können die Klimakrise verschärfen.
Bisher wurde die Rolle der Finanzmärkte vor allem in Bezug auf die Lösung der Klimakrise thematisiert. Wenn etwa Banken Gelder auch nach Nachhaltigkeitskriterien vergeben, übt das starken Druck auf Unternehmen aus. Was aber, wenn sie diese Kriterien als nicht mehr so wichtig erachten, weil sie einer anderen Imagination der Zukunft folgen? Oder wenn sie Klimawetten entwickeln, die zwar gut für die Anleger*innen sind, aber nicht unbedingt für die, die unter dem Klimawandel leiden? „Auch diese Seite der Finanzmärkte sollten wir betrachten“, sagt Komporozos-Athanasiou.

4. Finanzmärkte können Teil der Lösung sein.
So negativ das alles klingen mag: Für Komporozos-Athanasiou eröffnet der Collapse Finance-Ansatz auch neue Möglichkeiten darüber nachzudenken, wie Finanzmärkte zur Lösung von Krisen beitragen können. Wenn Imaginationen so entscheidend sind, wie können wir sie dann beeinflussen? Wenn wir alle als Homo speculans auf das Klima oder Kryptowährungen wetten können, welche kollektive Macht erwächst dann daraus?

Foto von Luzia Cruz

3. Was genau ist das Projekt am THE NEW INSTITUTE?

Das Framework Collapse Finance ist das Ergebnis einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Disziplinen. Zum insgesamt siebenköpfigen Team um Komporozos-Athanasiou gehören Ökonom*innen und Historiker*innen, aber auch der Künstler Till Witwer und die Psychoanalytikerin Jamieson Webster. „Das THE NEW INSTITUTE hat uns die Möglichkeit gegeben, wirklich interdisziplinär und transsektional zu arbeiten“, sagt Komporozos-Athanasiou. „Herausgekommen ist nicht nur ein neues Framework. Wir haben auch eine gemeinsame Sprache gefunden, die die widersprüchlich, spekulative Rolle der Finanzmärkte beschreibbar macht.“

Neben der Entwicklung des Frameworks haben die Fellows dieses auch in mehreren Fallstudien angewandt. Diese erscheinen nun in einem Essayband. Jamie Pietruska beschreibt am Beispiel der „Catastrophe Bonds“, wie Katastrophen zunehmend als Spekulationsmöglichkeit betrachtet werden. Kimberly Chong analysiert, wie die Neuausrichtung der größten britischen Pensionskasse die Altersvorsorge zu einem Glücksspiel gemacht hat – während zugleich neue Profitmöglichkeiten für Vermögensverwalter*innen entstanden. Giulia Dal Maso beschäftigt sich mit dem Longevity-Trend – also dem Wunsch, mit Hilfe moderner Technik möglichst lange und gesund zu leben – und untersucht, wie die Finanzmärkte diesen Trend etwa mit Langlebigkeits-Anleihen monetarisieren. Im Zentrum des Essays von Melinda Cooper stehen unbeständige Persönlichkeiten wie Donald Trump oder der Investor Peter Thiel – und wie sie als Anker neuer spekulativer Ökosysteme fungieren. Die Psychoanalytikerin Jamieson Webster legt die Finanzmärkte sinnbildlich auf die Couch – und reflektiert, ob Diagnosen wie eine Neurose oder Psychose auf sie zutreffen könnten.

In einem Workshop Mitte Juni wurde das Framework mit hochkarätigen Gästen am THE NEW INSTITUTE diskutiert. Dazu gehörten unter anderem Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung sowie Gillian Tett, die dem Editorial Board der Financial Times angehört. Weiterentwickelt werden soll das Framework über das Programm am THE NEW INSTITUTE hinaus in einem Netzwerk von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen, das künftig vom University College London koordiniert wird.

Foto von Luzia Cruz

4. Und was bedeutet das für den Kapitalismus?

Für Komporozos-Athanasiou sind die Finanzmärkte ein ganz besonderer Teil des Kapitalismus, der gerade angesichts großer Risiken gefährliche Eigendynamiken entwickeln kann. Das Framework soll dazu dienen, diese Dynamiken besser zu verstehen – um dann mit politischer Regulierung und vielleicht auch kollektiven Konterspekulationen gegensteuern zu können. „Wir brauchen einen neuen Rahmen und Instrumente, um sicherzustellen, dass die Finanzmärkte Krisen nicht zugleich ausnutzen und beschleunigen, sondern ihnen entgegenwirken“, sagt Komporozos-Athanasiou.

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