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NARRATIVE ECONOMICS

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Porträt einer Frau, die ein Sweatshirt mit griechischem Skulpturendruck trägt und ein Handy hält, das mit der Powerbank verbunden ist.

Foto von Alex Majoli / Magnum Photos / Agentur Photos

Ökonomik als Erzählung

Als soziale Wesen leben Menschen in einer Welt der Geschichten. Um Verständigung und Verständnis zu erzielen, teilen wir die Beweggründe unserer Einstellungen und Entscheidungen mit. Dabei beziehen wir uns auf Wissensbestände genauso wie auf Werte und normative Vereinbarungen. Gesellschaftliche Legitimationserzählungen und wissenschaftliche Paradigmen gelten uns dabei als Deutungsmuster und Referenzrahmen für angemessenes, rationales oder auch rebellisches Handeln. Erst durch diese gemeinsamen Referenzrahmen können wir uns als Gesellschaft erleben. Den etablierten Legitimationserzählungen und Paradigmen einer bestimmten Zeit kommt damit strukturelle Macht zu:

Was wünschenswert, wahrscheinlich und möglich erscheint, hat viel mit den Denkmustern zu tun, mit denen ein Sachverhalt beschrieben und Lösungen gesucht werden.

Eine große Anzahl von Fremden kann erfolgreich kooperieren, indem sie an gemeinsame Mythen glaubt. Jede groß angelegte menschliche Kooperation – ob ein moderner Staat, eine mittelalterliche Kirche, eine antike Stadt oder ein archaischer Stamm – basiert auf gemeinsamen Mythen, die nur in der kollektiven Vorstellungskraft der Menschen existieren.

Yuval Noah Harari

Einige der dominantesten Erzählungen und legitimierenden Denkmuster unserer Zeit stammen aus der ökonomischen Disziplin. Begriffe wie Arbeitsmarkt und Ich-AG, Natur- und Humankapital, Gesundheits- oder Kreativwirtschaft werden kaum mehr hinterfragt. Aus einem sozialwissenschaftlichen Theoriegebäude ist Alltagsverstand geworden.Und so nehmen Menschen beispielsweise den Aktienmarkt als Barometer wahr, das die Gesundheit der Wirtschaft misst.

Steigen die Börsenkurse, bedeutet das Wachstum, Wachstum bedeutet Wohlstand, mehr Wohlstand bedeutet höhere Lebensqualität und der Wohlstand des einzelnen mehrt automatisch den Wohlstand aller – oder etwa nicht?

Die Wirtschaftswissenschaften kreieren die Welt, die sie untersuchen.

Kenneth E. Boulding

Dieses Beispiel einer stark vereinfachten und kollektiv wirksamen Erzählung macht deutlich, wie das soziale Vorstellungsvermögen und das individuelle Verhalten durch wissenschaftliche Paradigmen beeinflusst werden. In der Wirtschaftswissenschaft wird mit der Mathematik zudem eine Sprache eingesetzt, die objektiv, neutral und universell wirkt. Wertentscheidungen hinter monetären Messgrößen, Risikoabwägungen hinter Kosten-Nutzen-Kalkulationen und Kausalitätsannahmen in den Gleichungen und Modellrechnungen erzählen aber jeweils nur eine von vielen möglichen Geschichten über die Spezies Mensch und ihr produktives Zusammenwirken.

Mit welchen Geschichten wollen wir mögliche Zukunft vordenken?

Die ökonomische Forschung und ein zunehmend wirtschaftlich geführter Diskurs über menschliches Zusammenleben und Entwicklung wirkt damit performativ in die Gesellschaft zurück: Der Raum möglicher Strategien und Zukunftsvorstellungen wird vorgeprägt. Vorschläge, die anschlussfähig sein möchten an den relevanten Referenzrahmen, bemühen sich der dort vorherrschenden Denkmuster und Logiken – und schreiben die Ökonomisierung von Alltagsverstand und Kooperationsstrukturen weiter fort. Ursache und Wirkung dieser Rückkopplungsschleifen verschwimmen, während sie bewusst oder unbewusst unsere gemeinsame Zukunft prägen.

Durch die Wirksamkeit der Autorität, mit der sie als Experten ausgestattet sind, können sie die Definition der sozialen Realität beeinflussen. Die Autorität von Logik und damit des Experten, der ein Praktiker der Logik ist, hat Gewicht. Diese Quelle der Autorität legitimiert die Geschichten, die sie erzählen. Die Quelle unterwandert aber auch das eigene Bewusstsein der Geschichtenerzähler darüber, dass sie Geschichten erzählen.

Don Michael, Club of Rome

Wenn ökonomische Theorien die ökonomische Praxis und unsere zukünftige Wirklichkeit prägen: Sollten wir diese normative Kraft dann nicht offen diskutieren? Wenn sich die Rahmenbedingungen für unser Wirtschaften drastisch verändert haben: Sollten zentrale Denkmuster und Modelle aus einer anderen Zeit dann nicht ein Update bekommen? Wenn Gesellschaften in Krisenzeiten vertrauenswürdige Orientierung suchen:

Sollten Wertentscheidungen und Risikoabwägungen hinter Modellrechnungen dann nicht transparent erläutert werden?

Die Agenda um Naturkapital ist der endgültige Ausdruck unserer Abkehr von der lebendigen Welt. Zuerst verlieren wir unsere Wildtiere und Naturwunder. Dann verlieren wir unsere Verbindungen zu dem, was vom Leben auf der Erde bleibt. Dann verlieren wir die Worte, die beschreiben, was wir einmal wussten.

George Monbiot

Theorie und Praxis: Wer forscht und arbeitet dazu?

Quellen

Boulding, Kenneth E. 1969. Economics as a Moral Science. The American Economic Review, Vol. 59, 1, 1-12.

Göpel, Maja. 2016. The Great Mindshift: How a New Economic Paradigm and Sustainability Transformations Go Hand in Hand. Berlin: Springer International Publishing

Göpel, Maja. 2020. Unsere Welt neu denken. Ullstein Verlag

Harari, Yuval Noah. Sapiens: A Brief History of Humankind. HarperCollins Publishers

Michael, Donald M. 1985. With Both Feet Planted Firmly in Mid-air: Reflections on Thinking About the Future. Futures. 17 (2). 94-103

Monbiot, George. 2018. The UK Government Wants to Put a Price on Nature – But That Will Destroy It. The Guardian, 15. Mai

Shiller, Robert J. 2019. Narrative Economics: How Stories Go Viral and Drive Major Economic Events. Princeton University Press

Shiller, Robert J. 2017. Narrative Economics. Cowles Foundation Discussion Paper 2069. Yale University